Magersucht (Allgemeiner Überblick)
Die umgangssprachlich als „Magersucht“, seltener auch als „Ana“, und im fachwissenschaftlichen Zusammenhang in der Regel als „ Anorexia nervosa“ („Nervlich bedingte Appetitlosigkeit“), manchmal auch als „Anorexia mentalis“ oder ungenau „Anorexie“ („Appetitlosigkeit“) bezeichnete Krankheit gehört zu den seelischen Essstörungs-Erkrankungen.
Die Abgrenzung zu der ebenfalls zum Essstörungs-Krankheitskreis zählenden Bulimie kann im Einzelfall schwierig werden, weil Symptome beider Erkrankungen gleichzeitig auftreten können („Bulimanorexie“). Die an Magersucht erkrankten Personen sind in der Regel, überwiegend junge oder sehr junge, Frauen. Nach, wegen der erheblichen die Erkrankung betreffenden Dunkelzahl vorsichtigen, Schätzungen leiden etwa 0,7 Prozent der weiblichen Jugendlichen in Deutschland an Magersucht.
Lediglich zehn Prozent der Magersüchtigen sind Jungen oder Männer. Formal liegt der Vermutung einer Anorexia nervosa nahe, wenn der Body-Mass-Index bei Erwachsenen unter der Untergewichts-Marke von 17,5 Punkten (das entspricht einem Körpergewicht von etwa 52 kg bei einer Körpergröße von 1,73 cm) liegt, und wenn keine physische Erkrankung als Ursache in Betracht zu kommen scheint.
Typisierung als seelische Erkrankung
Ausgang der Magersucht-Symptomatik ist in der Regel eine Dysmorphphobie. Das bedeutet, die Vorstellung von der wünschenswerten Ausbildung des eigenen Körpers („Körperschema“) weicht sowohl vom tatsächlichen Körperbild als auch von den allgemein gängigen Vorstellungen über den Normalzustand von Körpern ab.
Diese von der Norm abweichende Prägung des Körperschemas erfolgt zumeist in der Pubertät und kann verschiedene psychosoziale Ursachen haben. Nicht selten fließt die dem eigenen Körper von Verwandten, Freunden oder Bekannten entgegengebrachte Wert- oder Minderschätzung in potenzierter Form mit in die Bildung eigener Vorstellungen ein.
Der magersüchtige Patient empfindet seinen Körper selbst bei Normalgewichtigkeit (BMI 18,5-25) und selbst bei Untergewichtigkeit als stark übergewichtig. Er setzt große Teile seiner Energie dazu ein, das vermeintliche Übergewicht durch radikale Reduzierung der Nahrungsaufnahme zu vermindern. Das Selbstwertgefühl der Betroffenen ist im entscheidenden Umfang von der als Erfolg empfundenen dauernden Gewichtsabnahme abhängig.
Formen der Gewichtsreduzierungs-Strategien und Selbstbild der Erkrankten
Magersüchtige verzichten bewusst auf alle Nahrungsmittel, die ihrer Überzeugung nach bei der Gewichtsreduzierung kontraproduktiv wirken können. Dabei wird aber in der Regel nicht nur auf klassische Fettmacher wie Süßigkeiten oder Wurst verzichtet. Die „Fettmacher“-Eigenschaft wird oft nahezu allen, selbst in geringen Mengen zugeführten, Lebensmittel zugeschrieben.
Zahlreiche Magersüchtige belassen es nicht allein bei der Restriktion der Nahrung, sondern versuchen zusätzlich für eine Verminderung der Energiezufuhr zu sorgen. Häufig angewandte Strategien sind bewusst herbeigeführtes Abführen („Purging“) durch Erbrechen sowie durch Darm-Einläufe oder andere Abführmittel verursachter exzessiver Stuhlgang. Ferner wird oft durch den Missbrauch von Diuretika die Wasserausscheidung erhöht sowie bis zur Erschöpfung Sport getrieben.
Typisch für Magersüchtige ist ein ausgesprochen aktiver Betätigungsdrang in beruflichen und privaten Bereichen. Magersüchtige fühlen sich aufgrund ihrer von ihnen als „asketisch“ zumeist positiv besetzten, durch Disziplin und Verzicht geprägten Lebensweise ihren Mitmenschen oft überlegen.
In der Regel empfinden Magersüchtige diese Lebensweise, selbst bei entsprechenden Hinweisen aus dem persönlichen Umfeld, nie oder nur spät als Folge ihrer Erkrankung. Folgen der radikalen Nahrungsreduzierung wie Menstruationsausbleiben, Fehlbildungen der Hoden (bei männlichen magersüchtigen Jugendlichen), Störungen des Stoffwechsels und der Verdauung bis, im Extremfall, zur Todesgefahr als Folgen der Nahrungsverweigerung werden zumeist verdrängt oder sogar billigend in Kauf genommen.
Magersucht als medizinhistorisches und gesellschaftliches Phänomen
Die Magersucht wurde erstmals Ende der 1860er Jahre wissenschaftlich diskutiert. Als „Anorexia hysterica“ beschrieb 1868 ein britischer Arzt vor allem die Symptomatik der Magersucht. Ein französischer Kollege veröffentlichte fünf Jahre später einen Fachaufsatz, der die „Überaktivität“ der von ihm untersuchten Patienten betonte. Wegweisend war die übereinstimmende Ansicht beider Ärzte, dass die Ursachen der von ihnen beschriebenen Form der Appetitlosigkeit im seelischen Bereich zu suchen seien.
Heute geht die Wissenschaft von einer noch weitgehend ungeklärten Kombination von verschiedenen Faktoren aus, die die Krankheit zum Ausbruch bringen. Neben Einflüssen, die von der näheren Umwelt sowie bestimmten Medien ausgehen können, werden auch erbbiologische Veranlagungen und psychosoziale Prozesse als Ursachenkomponenten genannt.
Oft wird im Zusammenhang mit Magersucht auf spezifische Frauentypen in der Sphäre von Mode und Show hingewiesen, deren stereotype, häufig mit die Illusion von Erfolg vermittelnder Arroganz verbundene Superschlankheit von einigen Medien seit den 1970er Jahren zum Idealtypus stilisiert wird. Inwieweit dieser Frauentyp tatsächlich mitursächlich für das zunehmend von der Öffentlichkeit registrierte Phänomen „Magersucht“ ist, ist strittig. Als gesichert gilt aber die Annahme, dass ein wesentlicher Ursachenkomplex im Verhältnis der Erkrankten zu ihren Familien, insbesondere zu ihren Eltern, zu finden ist.
Die Heilungschancen der langfristig lebensbedrohenden Anorexia nervosa sind lediglich bedingt gut. Nach der angezeigten psychotherapeutischen Behandlung können sich immerhin etwa zwei Drittel der Behandelten von der Krankheit lösen, wenngleich die meisten geheilten Magersüchtigen lebenslang untergewichtig bleiben. Ein Viertel der Erkrankten ist ständig auf medizinische Behandlung angewiesen und etwa 10 Prozent sterben an den Folgen der Magersucht.
Als Beispiel für das Leid der Magersüchtigen wurde im Rahmen einer nicht unumstrittenen Foto-Kampagne aus Anlass der Mailänder Modewoche im Jahr 2007 das Bild des magersüchtigen Models Isabelle Caro weltweit publiziert: Isabelle Caro starb 2010 im Alter von nur 18 Jahren an den Folgen ihrer Erkrankung.